Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Hilger

 

David Eugster / Sibylle Marti (Hrsg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa. Essen: Klartext, 2015. 298 S. = Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, 21. ISBN: 978-3-8375-1275-5.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1051191556/04

 

Das vorliegende Buch präsentiert Vorträge einer Konferenz über die „Kultur des Kalten Kriegs“, die 2012 in Zürich organisiert wurde. Die Beiträge thematisieren so unterschiedliche Aspekte wie die chinesisch-ostdeutschen Beziehungen, den Atombunkerbau in der Schweiz oder die Neutralitätspolitik Österreichs. Zusammengehalten werden die Studien durch einen gemeinsamen Zugriff, der sich vor allem für symbolische Strukturen sowie die damit verbundenen Praktiken und materiellen Dimensionen interessiert. Herausgeber und Autoren sind sich wohl bewusst, dass der Kalte Krieg in Europa und weltwelt seine Dynamik, Brisanz und Wirkungsmacht vielfach aus politischen, militärischen sowie wirtschaftlichen Konstellationen und Gegensätzen bezog. Sie gehen aber davon aus, dass der Systemkonflikt „in Europa seine Virulenz und Persistenz gerade dadurch entfaltete, weil er permanent ausgemalt, inszeniert und materialisiert wurde“ (S. 4). Die Wechselwirkung von kontinuierlichen Bedrohungsszenarien und vorherrschenden Feindbildern mit tatsächlichen Ereignissen oder Entwicklungen ist für verschiedene Zeit- und Frontabschnitte des Kalten Kriegs erst noch genau zu bestimmen. Dabei wird sich dieses Verhältnis in Brennpunkten anders darstellen als in neutralen Staaten wie beispielsweise der Schweiz. Der Blick auf Außenzonen des Kernkonflikts zeigt eindringlich, dass der Kalte Krieg als global angelegte Auseinandersetzung in allen Lebensbereichen eine Sogwirkung ausübte, der sich die Randgebiete kaum entziehen konnten. Eine vollständige Neutralität war auch aus deren Sicht nicht möglich und nicht gewollt. Die Peripherien waren mit der einen oder der anderen Seite durch wirtschaftliche, kulturelle, gegebenenfalls auch durch politische Gemeinsamkeiten verbunden und daher nicht gänzlich unparteiisch. Daneben herrschte das Bewusstsein vor, dass, wenn es zu einer militärischen Konfrontation zwischen den Blöcken kommen sollte, ohnehin alle bestehenden Grenzen ignoriert würden. Daher verloren mit der Zeit nationale, isolierte Antworten auf den Systemkonflikt zunehmend an Überzeugungskraft. Die Ambivalenz der schweizerischen Bunkerbauprogramme und ihrer Aufnahme durch die Bevölkerung beleuchtet beispielhaft derlei komplexe Verflechtungen. Insgesamt erweist sich die Analyse der Peripherie als wertvolles Instrument, um den Blick für längerfristige Entwicklungen im Kalten Krieg sowie für die tatsächliche Kraft des „gesellschaftlich Imaginären“ zu schärfen (S. 5).

Die Beiträge greifen mit „Metaphern“, „Figuren“, „Emotionen“ und „Simulationen“ vier Felder auf, die für die Untersuchung der Kriegsvorstellungen relevant sind. Unter der Rubrik Metaphern diskutieren Philipp Sarasin und Quinn Slobodian grundlegende Bilder der Abgrenzung gegenüber dem Systemfeind sowie des Zusammenhalts innerhalb der Blöcke. Sarasins Arbeit über den westlichen „Abendland“-Begriff ist von besonderem methodischen Interesse, da er Möglichkeiten einer quantitativen Analyse mit Hilfe des Ngram Viewers von Google Books demonstriert. Im Fazit gelangen beide Autoren mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen zum Schluss, dass sich auch im Kalten Krieg ideologische Konstruktionen und Weltbilder im Zusammenspiel mit politischen und wirtschaftlichen Realitäten beweisen mussten, damit sie nicht an Bedeutung verloren (S. 42, 66). Dem Wandel von Ordnungsmustern, Werten und Idealen geht schließlich auch die bereits erwähnte Arbeit von Sil­via Berger Ziauddin über die Bunkerlandschaften der Schweiz nach. Neben ihren Überlegungen zur internationalen Dimension des Kalten Kriegs diskutiert sie die Relevanz interner gesellschaftlicher Grenzen sowohl für die Wahrnehmung externer Entwicklungen durch die Schweiz als auch für Schweizer internationale Positionierungen. Dass innere Grenzziehungen in Ost und West Parallelen aufwiesen und eigenen Dynamiken unterworfen waren, verdeutlichen die drei anregenden Beiträge über die „Figuren“ Ingenieur, Werber und Intellektueller (Robert Leucht, Günther Stocker und Ste­fan Maurer sowie David Eugster). Sie zeigen zudem, dass individuelle Positionen und Verhaltensmuster mitunter nur schwer mit Bedeutungszuschreibungen in Einklang gebracht werden konnten, die im Interpretationsrahmen des internationalen Konflikts angesiedelt waren.

Der Kalte Krieg wurde auch mit Hilfe von und um Emotionen geführt. Dies lässt sich an der Musikerziehung von Kindern und Jugendlichen in der frühen DDR besonders nachdrücklich zeigen, wenn die Analyse nicht nur die Liedtexte, sondern auch die emotionale Praktik gemeinschaftlichen Singens erfasst (Juliane Bauer). Cornelia Kühn diskutiert in diesem Zusammenhang ebenfalls ein Beispiel aus der DDR. Die Pflege traditioneller Volkskunst sollte nicht nur Gemeinschaftsgefühle innerhalb Deutschlands stärken, sondern auch „Widerstandskraft“ gegen „westliche“ Kulturentwürfe wecken und damit zur Schaffung des sozialistischen Idylls beitragen (S. 188). Die Aufgaben ließen sich auf Dauer nicht miteinander vereinbaren. Die Kulturpolitik stieß bereits in den 1950er Jahren an ihre Grenzen, da die lokalen Akteure der Volkskunstgruppen ihren eigenen Vorstellungen folgten. Spätere Versuche der SED-Führung, bei der Jugend mit einer Solidaritätskampagne zugunsten der afroamerikanischen Aktivistin Angela Davis zu punkten, hatten ebenfalls ungewollte Effekte (Sophie Lorenz). Die Kampagne nutzte Ausdrucksweisen westlicher Jugend- und Protestkulturen. Eigenwillige Jugendliche entzogen sich jedoch den politisch-ideologischen Postulaten der Kampagnen-Macher. Sie imaginierten eher den Schulterschluss mit der Jugend jenseits des Eisernen Vorhangs als den mit der Parteiführung.

Die beiden letzten Beiträge des Bandes beschreiben Manöver sowie die gesellschaftliche und politische Produktion von Risikoszenarien in der Schweiz – und, als knappe Kontrastfolie – Großbritannien. Damit nehmen sie wieder militärische Dimensionen des Kalten Kriegs in ihre Überlegungen auf. Die „Simulationen“ waren von gängigen Bedrohungsvorstellungen beeinflusst und verstärkten diese gleichzeitig. In der sukzessiven Ausweitung von Feindbildern auf angenommene innere Gegner, die sich in Schweizer Großübungen nachweisen lässt, zeigte sich erneut die expansive Dynamik von Denkmustern des Systemkonflikts (Sibylle Marti). Die globale Auseinandersetzung dominierten allgemeine Katastrophendiskurse auch im Zivilschutz. Hier wurde zwar für Gefahren eines Atomkriegs vorgesorgt; Naturkatastrophen oder andere, im Grunde wahrscheinlichere Unglücke wurden dagegen vernachlässigt (Joe Deville und Michael Guggenheim). Die Imaginationen des Kalten Kriegs weisen damit bezeichnende Leerstellen auf. Diese Lücken gehören ebenso wie Wahrnehmungsverzerrungen durch Feindbilder zum Erbe des globalen Konflikts. Der Band unterstreicht die Bedeutung der kulturellen Dimensionen während der gesamten Systemkonkurrenz und ihrer Ausläufer. Die anspruchsvolle Aufgabe, diesen Krieg auch ‚in den Köpfen‘ zu beenden, scheint bis heute nicht wirklich gelöst zu sein.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: David Eugster / Sibylle Marti (Hrsg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa. Essen: Klartext, 2015. 298 S. = Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, 21. ISBN: 978-3-8375-1275-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hilger_Eugster_Das Imaginaere_des_Kalten_Krieges.html (Datum des Seitenbesuchs)

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